Nationalität eines Verdächtigen genannt
Mutmaßung in der Überschrift als Tatsachenbehauptung dargestellt
Eine Sonntagszeitung berichtet über ein mutmaßliches Sexualverbrechen. Die Überschrift lautet: „Mädchen (11) vergewaltigt! Afghane in U-Haft“. Im Text des Beitrages heißt es, in einem Park „solle“ ein elfjähriges Mädchen Opfer eines Sexualverbrechens gewesen sein. Der mutmaßliche Täter sei gefasst worden, stelle die Ermittler jedoch vor ein Rätsel. Der Jugendliche sitze in U-Haft, habe aber keinen Ausweis. Seine Identität sei unklar. Er schweige zu dem Vorwurf. Sein Anwalt – so die Zeitung – habe der Polizei gesagt, er sei ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Ein Leser der Zeitung vermutet einen Verstoß gegen Ziffer 12, Richtlinie 12.1, des Pressekodex. Er kritisiert die Redaktion. Sie hätte die Nationalität des Verdächtigen nicht nennen dürfen. Zudem werde in der Überschrift behauptet, was im Text korrekt als Mutmaßung dargestellt werde. Die Rechtsabteilung des Verlages widerspricht der Beschwerde. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Ziffer 12 des Pressekodex sei nicht ersichtlich. Bekanntlich sei die Nennung der Nationalität nach Richtlinie 12.1 des Kodex zulässig, wenn ein begründetes öffentliches Interesse daran bestehe. Die Rechtsvertretung verweist auf den Text im Artikel, der diesen Satz enthalte: „Der mutmaßliche Täter ist gefasst, doch er stellt die Ermittler vor ein Rätsel.“ Sie vertritt die Auffassung, dass der Verdacht einer besonders schweren Straftat für das Bestehen eines begründeten öffentlichen Interesses spreche. Im Bericht werde nirgends in verallgemeinerter Form von der Person des Verdächtigen auf die Volksgruppe der Afghanen geschlossen. Die Rechtsvertretung hält am Ende ihrer Stellungnahme fest, dass die Frage des „Wer?“ zu den traditionellen „fünf W´s“ informativer Medienberichterstattung gehöre. Das Verschweigen oder die Verschleierung der Tatsache, dass der Betroffene Angehöriger einer bestimmten Nationalität sei, widerspreche dem traditionellen Selbstverständnis von der Presse als Chronistin des Zeitgeschehens.