Spekulationen über Selbsttötung wegen drohender Zwangsheirat
Zeitung konnte Suizid-Motiv eines Mädchens nicht genügend belegen
„Suizid wegen geplanter Zwangsheirat?“: Unter dieser Überschrift berichtet eine Lokalzeitung ausführlich über die Selbsttötung einer Jugendlichen auf einer Bahnstrecke. Zum Motiv schreibt die Redaktion, die 16-Jährige sollte „angeblich mit dem 52-jährigen Cousin ihres Vaters zwangsverheiratet werden, heißt es aus dem Umfeld“. Vor ihrem Tod habe sie angeblich eine Abschiedsnachricht verschickt. „Darin schreibt sie nach Informationen unserer Redaktion davon, dass sie enttäuscht sei, keine Unterstützung bekomme und keinen anderen Ausweg mehr wisse.“ Außerdem schildert die Zeitung die Auswirkungen der stundenlangen Streckensperrung auf die betroffenen Bahnreisenden. - Die Beschwerdeführerin wirft der Redaktion vor, sie wolle offensichtlich Stimmung gegen Menschen mit arabischem Migrationshintergrund machen. Sie verwende verleumderische, rassistische Unterstellungen und Spekulationen, die nicht ansatzweise belegt seien. Eine gründliche Recherche hätte ergeben, dass die angeblich 16-Jährige 17 Jahre alt gewesen sei, dass es keinen 52-jährigen Cousin ihres Vaters gebe und es keine Abschiedsnachricht gegeben habe. Trotz einer persönlichen Intervention der Familienangehörigen sei der gleiche Artikel vier Tage später (mit korrigierter Altersangabe) auch online erschienen. Die ganze Verwandtschaft leide unter dieser Rufschädigung. Dem Restaurant des einen Familienzweigs seien wegen der Veröffentlichung die Stammgäste ferngeblieben. - Der Chefredakteur weist den Vorwurf „sensationslüsterner, rassistischer Spekulationen“ zurück. Über Suizide berichte die Zeitung, wenn sie große Aufmerksamkeit erlangten bzw. wenn sie Folgen für viele Menschen hätten. In diesem Fall habe ein Zug stundenlang auf offener Strecke gestanden. Die rund 200 Reisenden seien von Einsatzkräften mit Lebensmitteln versorgt und psychologisch betreut worden. Der Fall sei tagelang Gesprächsthema im Ort und auf Social-Media-Kanälen gewesen. Die Redaktion habe keine Öffentlichkeit hergestellt, sondern auf eine öffentliche Diskussion reagiert - nach reiflicher Überlegung und in dem Wissen, in einem Dilemma zwischen öffentlicher Aufmerksamkeit und presseethischen Grenzen zu stehen. In einem Info-Kasten habe sie zudem auf Hilfsangebote bei Suizidgedanken hingewiesen. Die Entscheidung zur Veröffentlichung sei unterstützt worden von der vertrauenswürdigen Informationslage der Lokalredaktion. Die Berichterstattung sei anonymisiert erfolgt, anders als auf Facebook, wo sich auch Familienmitglieder an den Diskussionen beteiligt hätten. Gesprächs- und Veröffentlichungsangebote der Redaktion an die Familie seien unbeantwortet geblieben. - Der Beschwerdeausschuss spricht eine öffentliche Rüge aus, weil die Redaktion ihre Annahmen zum Motiv des Mädchens nicht ausreichend mit verifizierten Quellen belegen kann. Dies ist ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex. Die Informationen hätten vor der Veröffentlichung genauer geprüft werden müssen. Außerdem sind die Gerüchte über die Todesumstände dazu geeignet, die Würde des Opfers nach Ziffer 1 zu verletzen. Zwar durften die Auswirkungen des Suizids auf die vielen Reisenden thematisiert werden. Aber die Redaktion hätte insgesamt zurückhaltender berichten müssen, da die Details über den Suizid und seine Hintergründe nicht belegt waren. Damit verstieß die Zeitung auch gegen Ziffer 8, in deren Richtlinie 8.7 es heißt: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung.“