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Brief an die Opfer eines schweren Unfalls

Redaktion einer Boulevardzeitung verstößt nicht gegen den Pressekodex

Eine Boulevardzeitung lässt online einen Autor einen Brief an die Opfer eines schweren Flixbus-Unfalls in der Nähe von Leipzig schreiben. Darin wird die Frage gestellt, warum die Opfer in den Flixbus gestiegen seien. Seien die Fahrgäste verunglückt, weil sie knapp bei Kasse gewesen seien? Hätten die teurere Bahn oder das Flugzeug sie sicherer nach München gebracht, fragt der Kolumnist. Eine Passage aus dem Beitrag: „Mit den kleinen Hämmern oben am Bus schlugen sie die Fenster auf und krochen blutend heraus. Es ist ein Unfall, mehr nicht. Der Busfahrer hatte einen Sekundenschlaf gehabt. Die Autobahn war mehrere Stunden gesperrt. Am nächsten Morgen fuhren Autofahrer wie immer, als wäre nichts geschehen. Ich stelle mir vor, wie sie alle dösten im Bus, wie sie sich sicher fühlten. Der Student, die alleinerziehende Mutter. Die Mutter, die ihren Sohn besuchen will. Das alles kann im Zug und im Flugzeug passieren. Das Schicksal hat kein Erbarmen.“ Vier Leser der Zeitung wenden sich mit einer Beschwerde an den Presserat. Sie kritisieren, dass der Artikel mehrere presseethische Grundsätze verletzt. Genannt werden die Ziffer 1 des Pressekodex (Menschenwürde), sowie die Ziffer 9 (Ehre der Opfer). Außerdem werfen sie der Zeitung Sensationsberichterstattung (Kodex-Ziffer 11) vor. Der Autor schreibe, die Opfer seien nur gestorben, weil sie unbedingt möglichst billig verreisen wollten. Er gebe also den Opfern Schuld an ihrem eigenen Tod. Der Chefredakteur sieht die Berichterstattung als zulässig an. Sie sei von der Meinungsfreiheit gedeckt. Bei den Passagen „Seid Ihr verunglückt, weil Ihr knapp bei Kasse wart?“ oder „Sterben wegen Billigtickets“ handele es sich um Meinungsäußerungen. Der Autor verdeutliche an mehreren Stellen, dass die Verunglückten gerade nicht „selbst schuld“ an ihrem Schicksal seien Er kritisiere vielmehr die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber einer solchen Tragödie („Am nächsten Morgen fuhren Autofahrer wie immer, als wäre nichts geschehen“). Von einem Verstoß gegen Ziffer 1 (Menschenwürde) und gegen Ziffer 9 (Schutz der Ehre) könne nicht gesprochen werden, da die Ehre etwas Höchstpersönliches sei. Keines der Opfer sei jedoch identifizierend dargestellt worden.