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Wer scharf kritisiert wird, muss Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen

Zeitung darf sich bei Vorwürfen gegen Gutachterin nicht allein auf Dokumente stützen

Eine Tageszeitung berichtet in mehreren Beiträgen über einen Sorgerechtsstreit nach einer Trennung der Eltern. Es geht dabei um einen Zehnjährigen. In den Beiträgen wird eine namentlich genannte Diplom-Psychologin kritisiert. Als gerichtlich beauftragte Gutachterin hatte sie dem Familiengericht mit Erfolg empfohlen, dass der Junge gegen seinen Willen seinen Lebensmittelpunkt beim Vater haben solle. Die Zeitung zitiert die Vorwürfe der Mutter, wonach der Vater sie während ihrer Beziehung geschlagen und vergewaltigt habe. Sogar die Rechtsanwältin des Mannes habe dessen frühere Gewalt eingeräumt, finde allerdings, dass die Vergangenheit „irgendwann einmal ruhen“ müsse. Doch für die Mutter, so die Zeitung, „bleibt die vergangene Gewalterfahrung gegenwärtig“. Die vom Familiengericht beauftragte Gutachterin mache ihr das zum Vorwurf, „dreht einen Strick draus“. In ihrem Gutachten schreibe sie: „Die Mutter hat die vergangene Paarbeziehung nicht ausreichend bewältigt“. Sie sei nur eingeschränkt erziehungsfähig, während der Vater ein stabiles und positives Verhältnis zu dem Jungen habe. Die Zeitung zitiert auch aus einem Gegengutachten, das die Mutter bei einem Professor für angewandte Psychologie angefordert habe. Er nehme das Gutachten der Diplom-Psychologin „nach Strich und Faden auseinander“ und halte sie für nicht ausreichend qualifiziert, um den Auftrag des Gerichts zu erfüllen. – Die kritisierte Psychologin beschwert sich beim Presserat darüber, dass die Zeitung gegen die Sorgfaltspflicht und gegen das Persönlichkeitsrecht verstoßen habe. Die Berichterstattung basiere ausschließlich auf den Angaben der Mutter. Die Aussage, dass deren Ex-Mann sie geschlagen und vergewaltigt habe, sei nicht belegt. Dadurch entstehe ein völlig falsches Bild. Außerdem seien Zitate aus dem Gutachten aus dem Zusammenhang gerissen worden. So werde die Sicht des Journalisten bestätigt, dass die Mutter Opfer einer unfähigen Sachverständigen geworden sei. Die Empfehlung, dem Willen des Kindes nicht zu folgen, sei ausführlich im Gutachten begründet worden. Die Gründe hierfür seien glücklicherweise nicht publik gemacht worden. Das hätte dem Kind großen Schaden zugefügt, so die Beschwerdeführerin. – Der Chefredakteur erläutert in seiner Stellungnahme, dass dem Verfasser der Beiträge sämtliche Gerichtsentscheidungen zu dem Sorgerechtsstreit, zahlreiche weitere Dokumente der beteiligten Stellen sowie die beiden widerstreitenden Gutachten vorgelegen hätten. Der Redakteur habe sorgfältig gearbeitet, eher Tausende als Hunderte Seiten gesichtet, ausgewertet, dargestellt und, wo es ihm nötig erschienen sei, bewertet oder Wertungen Dritter wiedergegeben. Dass die Zeitung die Gutachterin nicht um eine Stellungnahme gebeten habe, begründet der Chefredakteur damit, dass eine Anfrage nur Alibicharakter gehabt hätte. Denn die Gutachterin betone selbst, dass Kindschaftssachen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollten. Es sei eindeutig, dass sie keine Fragen zum konkreten Fall beantwortet hätte. Alle interessierenden Fragen habe sie bereits in ihrem rund hundertseitigen Gutachten beantwortet, das der Redakteur intensiv gelesen habe. – Der Beschwerdeausschuss bescheinigt der Zeitung, dass der Redakteur sorgfältig recherchiert hat. Seine Tatsachenbehauptungen sind vom Sachverhalt gedeckt, und für seine Meinungsäußerungen gibt es hinreichend tatsächliche Anknüpfungspunkte. Unter diesem Aspekt liegt also kein Sorgfaltsverstoß nach Ziffer 2 des Pressekodex vor. Dennoch spricht der Ausschuss eine öffentliche Rüge aus, denn die Zeitung hätte der Gutachterin eine Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Die massive Kritik an ihrer Qualifikation ist geeignet, ihre Reputation und ihre berufliche Existenz zu gefährden. Insoweit wäre es nach Ziffer 2 zwingend notwendig gewesen, sie vorab hiermit zu konfrontieren. - Bereits in der Vorprüfung des Falles hatte der Presserat festgestellt, dass die Zeitung den Namen der Gutachterin nennen durfte und somit nicht gegen Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit) verstoßen hat. Denn über Personen, die an der Rechtspflege beteiligt sind, darf in der Regel identifizierend berichtet werden, wenn sie ihre Funktion ausüben.