Bezeichnung „Schwarzfahrer“
Ein prominenter Bundestagsabgeordneter fährt Straßenbahn, ist in Eile, lässt sich am Fahrscheinautomaten von einem Jungen erklären, welchen Knopf er gedrückt hat, und bewegt, da er dasselbe Ziel wie der Junge hat, denselben Knopf, steckt sein letztes Kleingeld in den Schlitz. Während der Fahrt entdeckt er zu seinem Schreck, dass er eine Kinderkarte gelöst hat. Er greift nach der Geldbörse, um eine andere Karte zu lösen, und stellt fest, dass er sein Portemonnaie vergessen hat. Ein Kontrolleur taucht auf, sieht sich die Kinderkarte an, nickt und geht weiter. „Klar“, so der Abgeordnete später, „dass ich blass um die Nasenspitze war!“ Eine Boulevardzeitung greift den Vorgang auf und macht daraus eine große Geschichte: „Schwarz gefahren“. Sie dichtet einen Wortwechsel zwischen dem „Schwarzfahrer“ und dem Kontrolleur zusammen und legt letzterem die Verwarnung in den Mund: „Beim nächsten Mal macht das 60 Mark!“. Sie zitiert schließlich den Sprecher der Stadtwerke dahingehend, dass der Vorgang nicht aktenkundig sei, Schwarzfahren allerdings normalerweise 60 Mark koste. Der Betroffene fordert eine Richtigstellung. Seine Erklärung, dass es keine Schwarzfahrt war, sondern ein Irrtum, steht anderntags im Blatt. Der Politiker wendet sich dennoch an den Deutschen Presserat. Die Behauptung, er sei „schwarzgefahren“, sei falsch, da er nicht ohne Karte, sondern mit einem ermäßigten Ticket gefahren sei. Der Wortwechsel zwischen ihm und dem Kontrolleur sei frei erfunden, da der Kontrolleur die falsche Karte überhaupt nicht erkannt habe. Zudem enthalte der Beitrag erfundene Zitate von ihm. Auch die Stellungnahme der Stadtwerke werde offenbar falsch wiedergegeben. Er sieht in der Veröffentlichung eine Ehrverletzung. Die Richtigstellung reiche nicht aus, da sie auf Seite 26 veröffentlicht sei und nicht, wie der Ursprungsartikel, auf der Titelseite. Die Rechtsabteilung des Verlages erwidert, die Veröffentlichung stimme in ihren wesentlichen und entscheidenden Grundzügen mit der Geschichte überein, wie sie der Beschwerdeführer selbst erzähle. Eine wortgetreue Wiedergabe werde im Rahmen eines journalistisch sorgfältigen Verhaltens nicht gefordert. Die Verwendung des Begriffs „Schwarzfahren“ enthalte lediglich eine Wertung, die weder die Erfüllung eines Straftatbestandes noch die Verwirklichung einer Ordnungswidrigkeit voraussetze. Im übrigen würden in der juristischen Literatur ganz unterschiedliche Tatbestände unter dem Begriff des „Schwarzfahrens“ behandelt. Unstreitig sei, dass der Abgeordnete keinen gültigen Fahrausweis bei der Benutzung der Straßenbahn gehabt habe. Dies verpflichte ihn gemäß § 9 Abs.1 Nr.1 der Verordnung über die allgemeinen Beförderungsbedingungen des Straßenbahnverkehrs zur Zahlung eines erhöhten Beförderungsentgelts. Auch der nicht juristisch vorgebildete Leser würde hier unbefangen von „Schwarzfahren“ sprechen. Einen Verstoß gegen den Pressekodex sieht der Verlag daher nicht begründet. (1997)