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Fotos eines Amokläufers

Gesicht eines Lebensmüden nicht mit Augenbalken abgedeckt

Ein 19-jähriger Mann klettert wohl aus Liebeskummer auf ein 50 m hohes Brückenbauwerk und schießt mit einer Pistole wild um sich. Wie durch ein Wunder kommt niemand zu Schaden. Eine Boulevardzeitung berichtet über das Geschehen und den stundenlangen Einsatz der Polizei in großer Aufmachung. Sie zeigt den „Amokläufer“ in mehreren Fotos und veröffentlicht auch ein Bild der Mutter, die auf den Brückenturm geklettert ist, um ihren Sohn von seinem Tun abzubringen. Die Augenpartie der Frau ist abgedeckt. Ein Leser der Zeitung beschwert sich beim Deutschen Presserat. Er ist der Ansicht, dass die Veröffentlichung gegen die Persönlichkeitsrechte des Mannes und seiner Mutter verstößt. Außerdem kritisiert er die Darstellung eines offenbar Lebensmüden. Die Chefredaktion der Zeitung sieht in dem Vorgang ein Ereignis der Zeitgeschichte. Der junge Mann sei auf ein Wahrzeichen der Stadt geklettert und habe dafür gesorgt, dass die Brücke stundenlang gesperrt werden musste. Zudem sei er bewaffnet gewesen und habe mehrere Schüsse abgegeben. Insofern habe er selbst die Öffentlichkeit gesucht und hergestellt. Daher habe er damit rechnen müssen, dass in dieser Form über ihn berichtet wird. Über die Mutter habe die Zeitung nur so viel berichtet, als ohnehin für jedermann sichtbar war. Zudem sei sie in presseüblicher Weise durch Augenbalken unkenntlich gemacht worden. Ihr Persönlichkeitsrecht sei daher nicht berührt. (2001)