Leserschelte
Geschichten, die das Leben schreibt, sind die Themen der Rubrik “Tagebuch” in einer regionalen Zeitung. So auch das angebliche Verhalten eines Pfarrers, der mit dem Taxi zu einer Beerdigung fährt und sich die Kosten dafür von der Witwe erstatten lässt, obwohl er ein Auto und ein Motorrad in seiner Garage stehen hat. Ein Leser des Blattes bittet die Tagebuchautorin um Informationen darüber, wo sich dieser Vorfall ereignet hat, und macht keinen Hehl daraus, dass er die Geschichte für frei erfunden hält. Unter der selben Rubrik schreibt daraufhin die Redakteurin über die Reaktion ihrer Leser auf die Veröffentlichung und sie erwähnt, dass einer von ihnen ihr unterstelle, sie habe den Fall frei erfunden. Kategorisch verlange er, sie möge ihm mitteilen, wo und wann sich dies ereignet habe. Sie könne das, tue es aber nicht. So ein Brief gehe ans Eingemachte. Wer Zeitungsleute informiere, sei sogar vor Gericht geschützt und vor selbsternannten Stasi- und Gestapoleuten allemal. Sie halte es mit dem alten Spruch: Wer sich wehre, behalte sein Pferd. Der Leser, in dem Beitrag mit vollständigem Namen und Wohnort erwähnt, wehrt sich mit einer Beschwerde beim Deutschen Presserat. Er habe eine Aufklärung nicht kategorisch verlangt, sondern höflich um Aufklärung gebeten. Der Vergleich mit Stasi- und Gestapoleuten verletze seine Ehre. Zudem sei sein Brief nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Die Chefredaktion des Blattes entschuldigt sich bei dem Leser für die “grobe Entgleisung” ihrer Autorin. Die Rubrik “Tagebuch” sei inzwischen eingestellt worden. Damit habe man die Konsequenz aus dem Vorfall gezogen, über den sich der Leser beschwert hatte. (1996)