Leserbriefe
Eine Wochenzeitung erhält einen Leserbrief. Der Redakteur, der vertretungsweise die Leserpost bearbeitet, liest den Brief nur flüchtig und beschließt, lediglich den ersten Absatz des Schreibens zu veröffentlichen, in dem der Autor sich sehr ironisch zu einem Beitrag über Mütter-Töchter-Beziehungen äußert. Der Leser beschwert sich erst beim Chefredakteur, dann beim Deutschen Presserat, dass durch die starke Kürzung der Sinn seines Briefes verloren gegangen sei. Vier Monate nach der Veröffentlichung bittet die Chefredaktion den Leser um Nachsicht. Ihr Redakteur hätte bei weiterer Lektüre des Briefes erkennen müssen, dass erst die folgenden Passagen den Protest des Lesers ohne jede Ironie deutlich werden lassen. Die Zeitung gelobt Besserung, wenn in der nächsten Urlaubszeit wieder eine Vertretung die Leserbriefe zu redigieren habe. In ihrer Stellungnahme gegenüber dem Presserat bezweifelt die Chefredaktion jedoch, dass der Beschwerdeführer durch die Kürzung des Leserbriefes “kompromittiert” worden sei. Es wäre zwar sinnvoll gewesen, aus dem Schlussteil des Schreibens noch ein oder zwei Sätze zu zitieren, doch ändere dies nichts daran, dass die Kritik des Lesers an dem Beitrag klar werde. (1996)