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Bezeichnung „gaga“

Psychischen Zustand eines Angeklagten ohne Sorgfalt beschrieben

Vor dem Dom hatte er eine Klagemauer errichtet, um für Minderheiten zu demonstrieren. Jetzt muss er sich wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt in drei Fällen vor Gericht verantworten. Eine Boulevardzeitung am Ort berichtet darüber. Bei seiner Einweisung ins Krankenhaus hätten Experten bei dem arbeitslosen Lehrer eine „querulatorische Psychose“ diagnostiziert. Mit anderen Worten: Der Mann sei ein notorischer Querulant. Die Experten werden bereits in der Schlagzeile zitiert: Der Betroffene sei „gaga“. Eine Woche später veröffentlicht das Blatt das Urteil: „Amtlich: Herr der Klagemauer ist gaga“. Der Richter habe entschieden, dass der Angeklagte nicht schuldfähig sei und deshalb freigesprochen werden müsse. Eine Bürgerinitiative, die dem Betroffenen ein Jahr zuvor einen Friedenspreis zuerkannt hatte, ruft den Deutschen Presserat an und beschwert sich über die „unverantwortliche und diffamierende Berichterstattung der Zeitung“. Hier werde Rufmord betrieben und gleichzeitig vorverurteilt. Den Zeitungslesern werde suggeriert, „Experten“ seien zu dem Ergebnis gekommen, bei dem Betroffenen handele es sich um eine psychisch abnorme Persönlichkeit. Das Gegenteil sei richtig: In der Verhandlung vor dem Amtsgericht sei auf ein Gutachten aus dem Jahre 1976 Bezug genommen worden, das eindeutig zu dem Schluss gekommen sei, der Angeklagte sei weder in seiner geistigen Fähigkeit noch in seiner Schuldfähigkeit eingeschränkt. Eine psychiatrische Untersuchung habe weder in dem aktuellen Gerichtsverfahren noch damals stattgefunden, noch sei ein Beschluss hierzu gefasst worden. Die Rechtsabteilung des Verlages hält die Kritik an den Artikeln für abwegig. Es sei lediglich darüber berichtet worden, was in öffentlicher Verhandlung vor dem Amtsgericht erörtert und entschieden worden sei. Die Wortwahl entspreche dem Stil einer Boulevardzeitung. Auf Anfrage des Presserats erklärt der Präsident des mit dem Fall befassten Amtsgerichts, der von ihm zu Rate gezogene Gutachter habe seinerzeit Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortung des Betroffenen geäußert. Dem Gutachter hätten in früheren Zeiten erstellte psychiatrische Gutachten, namentlich auch eine Krankenakte des Landeskrankenhauses vorgelegen. Und zwar sei im Jahre 1978 eine zwangsweise Unterbringung des Mannes mit der Diagnose „Verdacht auf querulatorische Psychose“ erfolgt. Die erstellten Gutachten hätten zwar eine entsprechende Persönlichkeitsstörung bejaht, jedoch eine Einschränkung der Schuldfähigkeit ausgeschlossen. Insoweit sei der Gutachter zu dem Ergebnis gekommen, dass die damalige Bewertung unter heutigen Gegebenheiten der Überprüfung bedürfen. Zu einer neuerlichen Untersuchung sei es aber nicht gekommen, da der Betroffene seine Mitwirkung verweigert habe. Wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit sei daher auf Freispruch erkannt worden. (1999)