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Bezeichnung “Lügner”

Das Sozialministerium eines Bundeslandes vergibt ein Leukämie-Gutachten. Eine Boulevardzeitung berichtet darüber und zitiert in der Schlagzeile die Meinung eines Atomexperten: Der zuständige Minister sei ein Lügner. In dem Beitrag wird behauptet, es habe keine Ausschreibung gegeben und das vom Minister beschriebene Auswahlverfahren hätte nie stattgefunden. Der Artikel bezeichnet die ganze Angelegenheit als “Mauschelei”, als “Lüge”, den Minister gleichwohl als “Lügner”. Dabei beruft sich der Autor auf Aussagen eines international anerkannten Atomspezialisten, welcher der Einlassung des Ministers, er sei am Auswahlverfahren gleichberechtigt beteiligt gewesen, widerspricht. Der Experte habe die Absage schon in der Tasche gehabt, als ein anderer Wissenschaftler aufgefordert worden sei, gleichfalls eine Studie anzubieten. Das betroffene Ministerium klagt gegen Verlag und Autor des Beitrags auf Unterlassung und Widerruf, legt gleichzeitig auch beim Deutschen Presserat Beschwerde ein. Ein Auswahlverfahren habe doch stattgefunden. Die Zeitung habe sich ohne eigene Recherche unzutreffende Behauptungen eines bei der Vergabe unterlegenen Konkurrenten zu eigen gemacht und in reißerischer und ehrverletzender Form veröffentlicht. Die Rechtsabteilung des Verlags legt ein Schreiben des Professors an den Minister vor, aus dem sich – so die Zeitung – ergibt, dass der Wissenschaftler die Kernaussage des Berichtes autorisiert hat. Dies betrifft insbesondere den Vorwurf der Lüge an die Adresse des Ministers. Die Rechtsabteilung legt auch ein Urteil des zuständigen Landgerichts bei, in dem die Klage des Ministeriums in vollem Umfang abgewiesen wird. Die Tatsachenbehauptungen “Lügner” bzw. “belogen” seien nicht unwahr. Der Kläger habe vielmehr in seiner Antwort auf die große Anfrage der Opposition im Landtag bewusst einen falschen Eindruck erweckt und damit wesentliche Tatsachen verschwiegen. Das Gericht komme deshalb zu der Überzeugung, dass die Bezeichnung “Lügner” im politischen Meinungskampf vom Kläger hinzunehmen sei. (1996)