Gerichtsberichterstattung
Leserin sieht das Opfer des Straftäters durch die Zeitung abgewertet
Ein Boulevardblatt schildert ein Strafverfahren gegen einen „alternden Lehrer“, der in eine hoffnungslose Liebe zu einer blonden Schönheit verfallen sei wie einst der Professor im Film „Der blaue Engel“. Diesmal spiele die Geschichte in einem Gefängnis, dessen pädagogische Abteilung der Angeklagte geleitet habe. Und sie sei Wirklichkeit. Opfer sei eine Frau, die wegen Anlagebetrügereien mit Diamanten in Millionenhöhe zu sechs Jahren Haft verurteilt worden sei. Sie sei die schöne Anmachfrau gewesen, die bei ihren reichen Kunden vorgefahren sei und ihnen mit Silikon aufgeblasene Steine verkauft habe. Auch im Gefängnis habe sie gepflegt und attraktiv gewirkt, trotz Knastessen, trotz Häme, trotz aller Gewalt und dem Kommandoton der Schließer. Der Lehrer, bislang unbescholtener Familienvater, habe ihr erst Briefe geschrieben, sie dann unter Ausnutzung seiner herausgehobenen Stellung im Knast sexuell missbraucht. Die schöne Blonde habe das unter Tränen geduldet. „Ich dachte, das gehörte zu meiner Strafe“, zitiert sie die Zeitung. Eine Leserin bittet den Deutschen Presserat, die Zeitung zu rügen. Sie sieht in der Berichterstattung eine Abwertung des eigentlichen Opfers. Die dem Lehrer vorgeworfene Straftat werde bagatellisiert. Die Rechtsvertretung des Verlages ist der Meinung, der Artikel berücksichtige angemessen sowohl die Seite des Angeklagten als auch die des Opfers. Die Berichterstattung lasse keinen Zweifel daran, dass der Angeklagte die Grenze der harmlosen Liebelei in massiver Weise überschritten habe. Der Anklagevorwurf werde ausführlich geschildert. Auch das Opfer sei mehrfach zu Wort gekommen, so dass von einer einseitigen oder abwertenden Darstellung keine Rede sein könne. (2001)