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Zitate frei erfunden

16-jähriger werden Aussagen zugeschrieben, die nicht gefallen sind

Unter der Überschrift “Ich kämpfe jeden Tag” berichtet eine Jugendzeitschrift über das Schicksal eines 16-jährigen unheilbar kranken Mädchens. Die Betroffene leidet unter einer fortschreitenden Lähmung und hat nach Ansicht der Zeitschrift vielleicht nur noch zehn Jahre zu leben. Das Mädchen wird in direkter Rede mit den Passagen zitiert: “Jeden Morgen, wenn ich aufwache, ist mein erster Gedanke: ‘Kann ich meine Arme noch fühlen?‘ ”, “Meine Augen werden immer schwächer, mein Gehör auch. Ich will gar nicht daran denken, dass ich irgendwann vielleicht mal blind sein werde”, “Wahrscheinlich würde ich beim Sex nicht viel spüren”, “Jetzt fehlt mir nur noch mein Traumtyp ... Vor einem Monat hatte ich mich total in Andreas verliebt”. Die Veröffentlichung einer Gegendarstellung der Betroffenen wird von der Zeitschrift verweigert. Vielmehr wird die Veröffentlichung eines Leserbriefes bzw. eine redaktionelle Nachbehandlung in Aussicht gestellt. Mit anwaltlicher Hilfe legt die Familie des Mädchens Beschwerde beim Deutschen Presserat ein. Bei den zitierten Stellen handele es sich um unzutreffende Behauptungen. Die Eltern des Mädchens hätten der Chefredaktion geschrieben, dass ihre Tochter diese Aussagen nie getroffen habe. Eine derartige journalistische Aufarbeitung des Schicksals von behinderten Menschen sei unzureichend und kontraproduktiv. Schließlich hätten die Eltern keine Einwilligung in die Veröffentlichung des Beitrags gegeben. Die Rechtsvertreter der Familie legen ein Schreiben der Autorin an die 16jährige sowie die ursprüngliche Version des Artikels der Redakteurin vor. In dem Entwurf findet sich keine Stelle, wonach die 16-jährige vielleicht nur noch zehn Jahre zu leben hat. Auch Gefühle beim Sex sind nicht angesprochen. Schließlich fehlt der Hinweis auf einen Andreas, in den sich das Mädchen angeblich verliebt hat. Die Autorin entschuldigt sich in dem sehr persönlichen Brief und bedauert, in der Redaktion nicht für ihre Version der Geschichte gekämpft zu haben. Der Rechtsvertreter der Zeitschrift teilt mit, das betroffene Mädchen habe vor Erscheinen des hier relevanten Beitrags als Darstellerin in einer sogen. “Foto-Love-Story” der Zeitschrift mitgewirkt. Danach sei die Idee entstanden, die 16jährige in einem eigenen Beitrag vorzustellen. Es sei falsch, wenn die Beschwerdeführer behaupten, dass die Veröffentlichung ohne die Einwilligung des Mädchens und seiner Eltern erschienen sei. Die Eltern seien keineswegs gegen die Veröffentlichung des Artikels gewesen und hätten sich später ausschließlich gegen den Inhalt des Beitrags gewandt. Das Textmanuskript und die Rechercheunterlagen seien vor Veröffentlichung der Schlussredaktion überlassen worden. Hier sei es wohl zu einer Verwechslung gekommen. Man habe dem Mädchen ein Zitat über Sex zugeschrieben, das so wohl nicht gefallen sei. Die Reaktion der Familie auf die Veröffentlichung habe dazu geführt, dass der Chefredaktion ein redaktionelles Aufgreifen der Thematik bzw. die Veröffentlichung eines Leserbriefes untersagt worden sei. Es sei nicht Aufgabe des Deutschen Presserats, einen aus presserechtlichen Gründen unzulässigen Gegendarstellungsanspruch zu unterstützen. Die Bemühungen der Redaktion, nach Ziffer 3 des Pressekodex zu verfahren, seien nicht gewürdigt worden. In einem weiteren Schreiben vertreten die Rechtsvertreter der Zeitschrift die Auffassung, dass Ziffer 3 des Pressekodex nicht Selbstzweck des Mediums sei, sondern eine Richtigstellung vor allem dann erfolge, um etwaige über einen Dritten aufgestellte Falschbehauptungen in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Sollte gerade dieser Dritte wie hier vorliegend ausdrücklich eine Veröffentlichung verbieten, könne es nicht als Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht gewertet werden, wenn dann eine solche Veröffentlichung gerade nicht erfolge. (1999)