Kritik am Strafsystem
Polarisierende Meinungsäußerungen in einer Kolumne
Der Kolumnist einer Boulevardzeitung bedankt sich bei dem Richter, der einen Geiselnehmer und Mörder wegen der besonderen Schwere der Schuld zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt hat. Ein Lebenslänglich sitze man heutzutage in Deutschland mit einer „Arschbacke“ ab. Nach zehn Jahren sonne man sich als Mörder auf Mallorca. Lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld heiße: keine automatische Freiheit. Der Täter werde das Gefängnis als alter Mann verlassen. Ein Leser der Zeitung schreibt dem Deutschen Presserat, die Behauptungen in der Kolumne seien unhaltbar. Häftlinge würden damit diffamiert und in ihrer Würde herabgesetzt. Der Autor lasse die Ansicht erkennen, bestimmte Häftlinge sollten möglichst ohne Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit ihre Strafe verbüßen. Dies stehe jedoch in deutlichem Widerspruch zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das immer wieder betont habe, die Möglichkeit zur Rückkehr in die Gesellschaft sei durch Artikel 1 GG gegeben. Die Rechtsabteilung des Verlages entgegnet, es mache den Charakter der Kolumne aus, zu provozieren und zu polarisieren. Es handele sich hier um eine Ansammlung von Meinungsäußerungen und nicht um einen Sachbericht. Der provozierende Tenor des Beitrags solle zu einer kontroversen Diskussion anregen. Das Verbot einer solchen Äußerung würde einen massiven Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit bedeuten. Das Problem, das der Autor anspreche, müsse thematisiert werden. Es sei Aufgabe der Presse, auch solche Meinungen, die in der Bevölkerung weit verbreitet seien, aufzuzeigen. Noch einmal betont die Rechtsabteilung, dass es sich hier lediglich um die subjektive Meinung eines Journalisten handele. Die reinen Meinungsäußerungen des Kolumnisten seien bekanntlich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich von der Meinungs- und Pressefreiheit des Artikels 5 GG geschützt. Dies gelte auch bei polarisierenden Meinungsäußerungen. Die Grenze zur nicht mehr geschützten Schmähkritik sei in dem Artikel nicht annähernd erreicht, besonders da sich die beanstandeten Sätze nicht auf eine Person, sondern in nicht individualisierter Form auf die gesamte deutsche Strafjustiz beziehen würden. (2003)