Interview eines Mörders
Kritik an Form und Inhalt der schriftlichen Fragen und Antworten
Unter der Überschrift „Der Hass ist massiv geschürt worden“ veröffentlicht eine Tageszeitung ein schriftliches Interview mit einem 28jährigen Mann, der wegen der Entführung und Ermordung eines Kindes zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Wegen der Grausamkeit des Verbrechens hatte das Verfahren gegen den Täter bundesweit Aufsehen erregt. In seinen Antworten auf die ihm schriftlich vorgelegten Fragen schildert der Verurteilte seine Gefühle nach der Tat, kritisiert die Haftbedingungen und spricht von einem Justizskandal, weil nicht hartnäckig genug gegen den Polizeipräsidenten ermittelt werde, der ihm angeblich Folter angedroht haben soll. Einleitend stellt die Zeitung fest, dass die Antworten des Betroffenen zum Widerspruch herausfordern. Bei der Schriftform seien aber spontane Einwände oder Korrekturen an den Aussagen nicht möglich. Auch da nicht, wo der Befragte in Larmoyanz und Selbstmitleid ausweiche. Eine Leserin der Zeitung beschwert sich beim Deutschen Presserat. Sie ist der Ansicht, dass dem Verurteilten durch das Interview die Gelegenheit gegeben wird, seine Straftat nachträglich zu rechtfertigen und sich selbst als Opfer darzustellen. Dadurch würden die Angehörigen des Opfers in ungehöriger Weise belastet. Fragen wie „Sind Sie froh, dass der Mordprozess zu Ende ist?“ oder „Fühlen Sie sich in der Haft durch andere Gefangene noch bedroht?“ seien geradezu eine Einladung an den Befragten, Mitleid erregende Äußerungen zu machen. Auch die Anmerkung des Interviewers „Das öffentliche Bild reduziert Sie auf einen geldgierigen jungen Mann...“ vermittele den Eindruck, als sei die Berichterstattung über den Fall und den Prozess dem Täter nicht gerecht geworden. Die Zeitung habe ihre Fragen dem Täter schriftlich übermittelt, so dass der Journalist keine Möglichkeit gehabt habe, nach einer Antwort nachzuhaken oder auf Antworten zu reagieren. Damit sei er bewusst das Risiko eingegangen, dass der Täter eine Plattform erhalte, um seine Tat zu relativieren. Während des Prozesses habe der Täter ausreichend Gelegenheit gehabt, sich selbst zur Tat zu äußern und seine Sicht des Falles darzustellen. An diesen Ort gehörten solche Aussagen auch hin. Alle Medien hätten die Möglichkeit gehabt, die Aussagen im Prozess wiederzugeben. Die Zeitung habe mit diesem Interview eine Grenze überschritten und ein Beispiel gegeben, das nicht Schule machen dürfe. Die Chefredaktion der Zeitung erklärt, die Auffassung der Beschwerdeführerin, man sei bewusst das Risiko eingegangen, dem Täter eine Plattform zu geben, sei falsch. Man könne auch nicht die Ansicht nachvollziehen, dass man einen Täter nach der Verurteilung nicht mehr zur Tat befragen dürfe, weil er während des Prozesses genügend Gelegenheit gehabt habe, sich dazu zu äußern. Es vergehe keine Woche, ohne dass in den Medien verurteilte Kapitalverbrecher zu Wort kommen. Dennoch habe man sich die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht leicht gemacht. Eine Woche nach Erscheinen des Interviews habe die Zeitung ihr eigenes Verhalten auf einer Meinungsseite hinterfragt. Zudem habe man mehrere kritische Leserbriefe dazu abgedruckt. (2003)