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Streit unter Journalisten

Wirtschaftsmagazin wird Lüge im System vorgeworfen

Unter der Überschrift „Alle unterhaken“ schildert ein Wirtschaftsmagazin einen Machtkampf an der Spitze eines deutschen Zeitungshauses und die Aktivitäten eines der Herausgeber. U.a. wird am Beispiel eines jungen Redakteurs berichtet, wie Mitarbeiter von anderen Blättern abgeworben worden seien. Die Umworbenen hätten sich ihr Gehalt frei wählen dürfen. So habe sich ein Experte für Rockmusik 16.000 Mark gewünscht. Den Dienstwagen der C-Klasse von Mercedes habe er auch privat nutzen dürfen. Der betroffene Mitherausgeber reagiert mit einer kritischen Erwiderung im eigenen Blatt. In seinem Beitrag finden sich u.a. die folgenden Passagen: „(Der Chefredakteur des Magazins) ... ließ einen seiner Redakteure einen Artikel über diese Zeitung (und ausführlich negativ über den hier Unterzeichnenden) schreiben“ und „Die Lüge und ihre Revokation sind im System schon eingebaut. Das hat ... (der Chefredakteur) schon vor wenigen Wochen mit Gerhard Schröder so gemacht. Ohne Quelle oder auch nur Plausibilität erfand er einen Anruf Schröders beim Bundesverfassungsgericht.“ Der genannte Chefredakteur hält den Beitrag für in höchstem Maße ehrverletzend und beschwert sich beim Deutschen Presserat. Der Kommentar enthalte schwere und pauschale Anschuldigungen gegen seine Person. Die Behauptungen, er verbiege die Wahrheit, erfinde Zahlen, lasse einen Mitarbeiter negativ über den Herausgeber einer Zeitung schreiben und füge Mitarbeitern dieses anderen Unternehmens zusätzlich Schaden zu, seien haltlose Anschuldigungen. Gleiches gelte für die Behauptung, er habe ein Telefongespräch des Bundeskanzlers mit dem Verfassungsgericht erfunden. Selbst wenn der Beitrag über die betroffene Zeitung komplett falsch gewesen bzw. dabei die journalistische Sorgfaltspflicht völlig außer Acht gelassen worden wäre, wäre die Behauptung des Beschwerdegegners, das Wirtschaftsmagazin betreibe die Lüge quasi als Geschäftsprinzip, völlig unbegründet. Die Rechtsabteilung des betroffenen Verlages äußert formale und inhaltliche Bedenken gegen die Beschwerde. Bei dem Streit handele es sich um eine typische persönliche Auseinandersetzung unter Journalisten. Wie im Beschwerdeverfahren B6/1991 seinerzeit festgestellt worden sei, würden Auseinandersetzungen unter Journalisten nicht in den Kompetenzbereich der freiwilligen Selbstkontrolle fallen. Nicht anders verhalte es sich im vorliegenden Fall, einem offen ausgetragenen Streit unter Journalisten über die journalistische Qualität der von ihnen jeweils verantworteten Presseveröffentlichungen. In eine derart emotionalisierte Auseinandersetzung dürfe sich eine auf berufsethische Fragen konzentrierende Selbstkontrolle nicht einmischen. Im übrigen sei die Beschwerde inhaltlich unbegründet. Der Kommentar des Mitherausgebers lasse keinerlei Verstöße gegen den Pressekodex erkennen. Dies gelte für den Artikel in seiner Gesamtheit wie auch für einzelne Passagen. Bei der Formulierung „(Der Chefredakteur)... ließ einen seiner Redakteure einen Artikel über diese Zeitung schreiben“ handele es sich um eine zutreffende Wertung des wahren Geschehens. Der Chefredakteur habe den Autor des Artikels ohne nähere Überprüfung des Wahrheitsgehalts der darin enthaltenen Tatsachenbehauptungen „schreiben lassen“ im Sinne von „er ließ ihn gewähren“. Die Bezugnahme darauf in der Zeitung stelle daher eine zulässige Meinungsäußerung diesseits der Grenze zur Schmähkritik dar. Unter Hinweis auf ein Urteil des Landgerichts Frankfurt vom 23. Januar 2003 stellt die Rechtsabteilung fest, eine presserechtlich zulässige Meinungsäußerung könne nicht gegen das berufsethische Wahrheitsgebot verstoßen. Durch sein Plädoyer für wahrheitsgemäßen Journalismus und die Beachtung von Fakten wahre der Kommentar nicht nur das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien, sondern steigere beides. Denn im Kern wende sich der Beitrag nur gegen das Erfinden von Zahlen sowie gegen den Bruch der stillschweigenden Übereinkunft zwischen anständigen Journalisten, nicht wechselseitig ihre Gehälter zu recherchieren und dann unter Namensnennung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Damit kritisiere der Herausgeber allgemein die zunehmende Verbreitung von Indiskretionen sowie von schlechten bzw. überhaupt nicht recherchierten Tatsachenbehauptungen, die von den Verantwortlichen notfalls eben kurzerhand wieder „revoziert“ würden. Die Qualifizierung objektiv unrichtiger Berichterstattung als „Lüge“ impliziere vorliegend gerade keine tatsächliche, sondern eine wertende, von Momenten des Dafürhaltens und des Kommentierens geprägte Äußerung über die innere Einstellung der genannten Zeitschrift und ihrer redaktionell Verantwortlichen bei der Veröffentlichung von Beiträgen wie z.B. desjenigen über das betroffene Verlagshaus. (2002)