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Vorverurteilung

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Ein stadtbekannter Galerist und Kunstsammler steht unter dem Verdacht, in zahlreichen Fällen Kinder missbraucht zu haben. Er sitzt in Untersuchungshaft. Die örtliche Zeitung berichtet mehrmals über den Fall. Eine Leserin kritisiert die Prangerwirkung der Beiträge, da der Betroffene eindeutig zu identifizieren sei. Sie glaubt, eine Vorverurteilung zu erkennen, und schaltet den Deutschen Presserat ein. Ein weiterer Vorwurf an die Zeitung: Der Autor eines Leserbriefes, der für den Beschuldigten Stellung nimmt und ihn eine integre Persönlichkeit nennt, sei durch eine gezielte Leserbriefaktion der Zeitung fertig gemacht worden. Der Chef vom Dienst der Zeitung teilt mit, der Beschuldigte sei eine Hauptperson der Gesellschaft in der Stadt. Es hätte nicht seiner Zeitung bedurft, die Verhaftung bekannt zu machen. Andere Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen hätten ausführlich über den Fall berichtet. Es sei notwendig gewesen, den Mann als Galeristen zu bezeichnen, da die Misshandlungen von Kindern nach Erkenntnis der Polizei in der Galerie gefilmt worden seien. Das Umfeld des Galeristen habe zudem die Kindesmisshandlungen mit Kunst in Verbindung gebracht. Vorgeworfene Tat und Beruf seien also miteinander verbunden. Der Chef vom Dienst gibt ferner zu bedenken, dass es in der Stadt mehrere Galerien gebe. Wäre der Beschuldigte nicht kenntlich gemacht worden, hätte die Gefahr bestanden, dass andere, die nichts mit dem Fall zu tun hätten, in Verdacht geraten wären. Den Vorwurf der Vorverurteilung weist die Zeitung zurück. In der Berichterstattung sei immer die Polizei als Quelle angegeben worden. Dem Gericht sei nicht vorgegriffen worden. (2001)