Selbsttötung
Bezeichnung „Selbstmord-Dorf“ zugespitzt, aber nicht regelwidrig
Drei Tage lang berichtet eine Boulevardzeitung über ein „geheimnisvolles Selbstmord-Dorf“ nahe der deutsch-tschechischen Grenze. Im ersten Beitrag teilt die Zeitung ihren Leserinnen und Lesern mit, dass sich in dem Ort ein 15-jähriges Mädchen erhängt und ein 22-jähriger junger Mann sich mit den Abgasen seines Autos vergiftet hat. Zudem sei ein 20-jähriges Mädchen seit vier Wochen spurlos verschwunden. Alle drei Jugendlichen stammten aus Aussiedlerfamilien, schreibt das Blatt. Die Polizei gehe davon aus, dass die Vermisste Opfer eines Verbrechens wurde. Dem Beitrag beigestellt sind die Fotos der Betroffenen. Einen Tag später kündigt die Zeitung „neue Rätsel“ an. „Steckt ein Drogen-Dealer hinter den mysteriösen Verbrechen?“ fragt sie in der Unterzeile zur Schlagzeile. Der Tod im Dorf habe einen Namen bekommen. Ein 19-jähriger Dealer habe die Mädchen der kleinen Gemeinde fortwährend terrorisiert und sich in manchen Fällen die Drogen mit Sex bezahlen lassen. Inzwischen sei eine 20-Jährige wegen Selbstmordgefahr in ein Krankenhaus gebracht worden. Auch eine 17-Jährige,die sich die Pulsadern aufgeschnitten habe, sei gerettet worden. Derweil sei der Dealer putzmunter auf freiem Fuß. Die Zeitung zeigt die Gräber der beiden toten Jugendlichen im Bild. Diesmal sind die Porträts der beiden Opfer mit Augenbalken abgedeckt. Das Foto der Verschwundenen wurde dagegen nicht verändert. Am dritten Tag fragt die Zeitung, ob das Dorf der „todessüchtigen Kinder“ nie wieder seinen Frieden finden wird. Die bisher berichteten Tatbestände werden noch einmal zusammengefasst. Der verdächtige 19-jährige Drogen-Dealer sei seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen worden. Aus kriminaltaktischen Gründen mache die Polizei keine Angaben, welche Rolle dieser Mann im Vermisstenfall spiele. Auch der dritte Artikel ist mit Fotos der vermissten 20-Jährigen und der 15-Jährigen, die sich mit einer Hundeleine erhängt habe, illustriert. Letztere ist wieder mit einem Augenbalken abgedeckt. Die Leiterin der Berufsfachschulen der Region ruft den Deutschen Presserat an. Sie hält die Berichterstattung für reißerisch. Begriffe wie „Selbstmord-Dorf“ und „todessüchtige Kinder“ würden die Gefahr eines Imitationseffekts erhöhen. Die Beschwerdeführerin kritisiert zudem die Veröffentlichung von Fotos der betroffenen Jugendlichen. Schließlich habe die Zeitung gegen Recherchegrundsätze verstoßen. Eine Mitarbeiterin der Zeitung habe versucht, Informationen über eine ihrer Schülerinnen zu erhalten. Mit der Behauptung, die Adresse einer ehemaligen Mitschülerin zu suchen, habe sie bei der Schulleitung nach einem Jahresbericht gefragt, der die Anschriften und Fotos der Schülerinnen enthalte. Auch die Schülermitverwaltung der Berufsfachschulen reicht eine Beschwerde ein. Sie beanstandet gleichfalls die Formulierungen „Selbstmord-Dorf“ und „todessüchtige Kinder“ sowie die Veröffentlichung der Fotos. Die Aussage, dass die Betroffenen aus Aussiedlerfamilien stammen, sei falsch. Die Bewohner des Dorfes ließen sich von der Zeitung keineswegs den Gedanken an eine Selbsttötung einreden. (2003)