Vorverurteilung eines Supermarktkunden
Rentner soll an der Kasse eine Schlagersängerin verprügelt haben
Eine Boulevardzeitung berichtet über einen 64jährigen Rentner, der in einem Supermarkt eine Schlagersängerin verprügelt haben soll. Es sei ein Kampf um den besten Platz an der Kasse gewesen. Die Zeitung lässt beide Kontrahenten zu Wort kommen. Die Sängerin behaupte, der Mann leide unter Realitätsverlust. Er habe ihr den Einkaufswagen mehrfach in den Unterleib gerammt. Auch der Rentner fühle sich als Opfer. Als eine zweite Kasse eröffnet worden sei, habe er dort einen Platz für seine Frau freigehalten. Die Sängerin habe ihm daraufhin gegen das Schienbein getreten. Die Zeitung veröffentlicht zwei Fotos des Schlagerstars, bringt auch ein Foto des Rentners, jedoch mit Augenbalken. Sie nennt seinen Vornamen, den Anfangsbuchstaben seines Familiennamens und sein Alter. In den Überschriften stellt sie fest: „Supermarkt-Prügler verhöhnt sie“ und „Jetzt prügelt der Supermarkt-Rowdy mit Worten weiter“. Ein Leser beschwert sich beim Deutschen Presserat. Die Überschriften machen seiner Meinung nach den Rentner bereits zum Täter, ohne dass eine Entscheidung ergangen sei. Die Rechtsabteilung des Verlages weist den Vorwurf der Vorverurteilung zurück. Die Redaktion habe eine wertende Überschrift benutzt. Sie habe den Rentner als „Supermarkt-Rowdy“ bezeichnet. „Rowdy“ sei ein Synonym für Rabauke, Flegel, Halbstarker, aber auch Schläger, Schlagetot und Raufbold. Mit Worten weiterprügeln bedeute, dass der Rentner die Frau, wie sich dann aus der folgenden Berichterstattung ergebe, mit Verbalinjurien belegt habe. So habe er sie als „Furie“ und „völlig hysterisch“ bezeichnet. Wenn man die Überschrift interpretiere als „der Flegel beschimpft Frau ... weiter“, dann könne hierin keine Vorverurteilung gesehen werden. Sollte der Presserat die Zeilen anders interpretieren, so verweise man auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Soldaten sind Mörder“, in der es um die Auslegung von Meinungsäußerungen gehe. Das Bundesverfassungsgericht habe dabei festgestellt, dass einer Äußerung keine Bedeutung beigelegt werden dürfe, die sie objektiv nicht habe. Sei eine Äußerung mehrdeutig, so dürfe von einer (gewollten und/oder präferierten) Interpretation in Wirklichkeit nur dann ausgegangen werden, wenn andere Auslegungen mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen seien (2003)