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Selbsttötung

Detailliert wird beschrieben, wie sich eine 16-Jährige erhängt hat

In großer Schlagzeile verkündet eine Boulevardzeitung, dass sich ein 16-jähriges Mädchen im Wald erhängt hat. Sie teilt den Leserinnen und Lesern den Vornamen, den Anfangsbuchstaben des Familiennamens, das Alter und den Wohnort der Betroffenen mit. Detailliert wird geschildert, wie sich das Mädchen an dem Ast eines Baumes erhängt hat. Das Waldstück, in dem die Tat geschah, wird im Bild gezeigt. Das Mädchen habe mit Freunden Urlaub im Süden machen wollen. Laut Staatsanwaltschaft seien die Tickets schon gekauft gewesen. Doch die Mutter habe den Urlaub gestrichen. „Ich kann doch einem so jungen Mädchen nicht erlauben, ohne Eltern in den Urlaub zu fliegen“, solle sie gesagt haben. Der Ortsvorsteher der Gemeinde, in dem die Familie wohnt, beschwert sich bei der Zeitung und beim Deutschen Presserat. Seiner Meinung nach weist die Zeitung der Mutter des Mädchens die Schuld an der Selbsttötung zu. Die Mitarbeiter der Zeitung hätten Familie, Freunde und Bekannte des Mädchens tagelang verfolgt, um mit aller Gewalt Stoff für eine Geschichte zu bekommen. Das angebliche Zitat der Mutter sei falsch. Sie habe sich nie so geäußert, sondern vielmehr erklärt, dass sie nicht mit der Presse reden wolle. Weiterhin sei auch die Darstellung nicht korrekt, dass das Mädchen nach einem Streit mit Tränen in den Augen zur Oma gegangen sei. Sie habe ihre Großmutter an besagtem Tag überhaupt nicht gesehen. Die Chefredaktion entgegnet, die Mutter des Opfers habe sich gegenüber einem Redakteur des Blattes genauso wie wiedergegeben geäußert. Sie habe erklärt, dass sie ihrer Tochter doch nicht hätte erlauben können, ohne Eltern in Urlaub zu fahren. Die Aussage, dass die Reise in die Türkei gehen sollte, sei dem Mitarbeiter des Blattes durch die Mutter eines weiteren Reiseteilnehmers bestätigt worden. Die Chefredaktion sieht keinen Anlass, an der Richtigkeit der Darstellung des Redakteurs zu zweifeln. Eine Verfolgung der Familie oder der Freunde des Opfers sei der Chefredaktion nicht bekannt. Dass die Großmutter sich mit ihrer Enkelin vor der Tat getroffen habe, sei der Akte der Staatsanwaltschaft zu entnehmen. Die Großmutter sei nach dem Suizid von der Polizei befragt worden und habe die in dem Beitrag wiedergegebenen Aussagen über die Umstände des Zusammentreffens mit ihrer Enkelin und die dabei ausgesprochene Ankündigung eines Suizids auch in dieser Form gemacht. (2004)