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Geiseldrama in Beslan

Darstellung der grausamen Wirklichkeit ist Aufgabe der Presse

Unter der Schlagzeile “Heute weinen alle Eltern – Terroristen schossen den fliehenden Schülern in den Rücken” dokumentiert eine Boulevardzeitung am 4. September 2004 das Geiseldrama in Beslan in Südrussland. Der Beitrag enthält viele Fotos, die Soldaten im Einsatz, verletzte Kinder und Helfer bei der Rettung der Opfer zeigen. Im Text wird das Geschehen minutiös geschildert. Die Klasse 6 eines Gymnasiums und deren Religionslehrerin wenden sich mit einer Beschwerde an den Deutschen Presserat: “Uns stört, dass die Zeitung zu große Fotos auf die Titelseite setzt, die zu brutal, gewalttätig und beängstigend sind. Die Kinder sind verstört und werden von Reportern belästigt, andauernd befragt und fotografiert. Die Kinder und auch die bedrohten Erwachsenen benötigen Hilfe und keine Reporter, die ihr großes Leiden fotografieren. Das Privatleben der Kinder wird gestört, der private Bereich muss aber geschützt werden, besonders wenn es sich um eine derartige Angst- und Gefahrensituation handelt. Großes Leiden, verblutende, schwer verletzte Kinder sollten nicht farbig riesengroß zur Schau gestellt werden.” Der Chefredakteur der Zeitung erklärt, in seinen Augen seien die Fotos über das Geiseldrama keine unangemessen sensationelle Darstellung, wie sie Ziffer 11 des Pressekodex verbiete. Als Begründung fügt er an, dass der seit Jahren andauernde Tschetschenienkrieg bislang schätzungsweise 200.000 Zivilisten das Leben gekostet habe und die Verbrechen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit begangen würden, weil Russland eine unabhängige Berichterstattung nicht zulasse. Das Geiseldrama in der Schule der südrussischen Stadt Beslan als Ausriss des lang anhaltenden Tschetschenienkrieges sowie des international wachsenden Terrorismus habe weltweit Entsetzen und eine umfangreiche Diskussion über die Umgangsweise des russischen Präsidenten mit dem Tschetschenienkrieg ausgelöst. Nach dem Geiseldrama seien drei Journalisten verhaftet worden. Man habe ihnen teilweise untersagt, sich öffentlich zu dem Vorfall zu äußern. Seine Zeitung, betont der Chefredakteur, habe sich seit jeher einer zensierten Berichterstattung widersetzt. Kriege und terroristische Anschläge seien grausam, eine Zensur der Berichterstattung jedoch unangemessen. Immer wieder würden Journalisten und Fotografen versuchen, den Einschränkungen der Pressefreiheit entgegenzuwirken und unter Einsatz ihres Lebens wahrhaftig über humanitäre Katastrophen zu berichten. Die umfangreiche Berichterstattung aller Medien in Wort und Bild rund um das Geiseldrama habe die Grausamkeit dieses Attentats der Öffentlichkeit erst in ihrem wahren Ausmaß nahe gebracht. Die Aussagen einiger Opfer in den deutschen Medien hätten nicht nur den russischen Präsidenten Putin zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Krieg in Tschetschenien und dem Umgang mit der Pressefreiheit in Russland gezwungen, sie hätten in Zusammenhang mit der umfangreichen Berichterstattung einen weit reichenden erfolgreichen Aufruf aller Medien ermöglicht, die Opfer und deren Familien in Beslan zu unterstützen. Der Chefredakteur will nicht in Abrede stellen, dass die beanstandeten Fotografien Kinder abschrecken. Man sei sich bewusst, dass auch Kinder zu den Medienkonsumenten zählen. Aus diesem Grunde wäge die Redaktion in jedem einzelnen Fall ab, ob die Veröffentlichung eines Gewaltfotos gegen Ziffer 11 des Pressekodex verstoße. Gleichwohl sei sie der Auffassung, dass Kinder heute im Zeitalter des international wachsenden Terrorismus zwangsläufig mit Gewalt in den Medien konfrontiert werden. Die Beurteilung nach Ziffer 11 dürfe von daher nicht ohne Berücksichtigung dieser Entwicklung erfolgen. Zeitungen seien darüber hinaus primär Informationsträger, welche nicht dazu dienten, nur die schönen Seiten der Welt zu zeigen, sondern den Auftrag hätten, wahrheitsgemäß und umfassend zu berichten. Dass einige Personen mitunter daran Anstoß nähmen, lasse sich dabei nicht vermeiden. Wie das Bundesverfassungsgericht im Benetton-Urteil klarstelle, sei ein “vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt der Bürger kein Belang, zu dessen Schutz das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt werden” dürfe. Im übrigen habe kein weiterer Leser der Zeitung an der dieser Beschwerde zu Grunde liegenden Berichterstattung Anstoß genommen.