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Gerichtsberichterstattung

Angeklagter in Berichten und Kommentaren anonymisiert

In mehreren Beiträgen schildert eine Regionalzeitung eine „Unfallflucht mit seltenen Folgen“. Danach soll ein 18-Jähriger nachts ein Auto gerammt und, ohne sich um den angerichteten Schaden zu kümmern, nach Hause gefahren sein. Als die Polizei den Verdächtigen zu einer Blutentnahme habe abführen wollen, habe sie Vater, Mutter, Sohn und Hund der betroffenen Familie mit Pfefferspray zur Räson bringen müssen. In der Gerichtsverhandlung habe sich der Betroffene als Opfer polizeilicher Gewalt dargestellt. 15 Zeugen seien gehört worden, ohne dass sich entlastende Fakten für den Angeklagten ergeben hätten. Das Gericht habe schließlich das rüde Verhalten des jungen Mannes mit einer Geldstrafe von 300 Euro, der Ableistung von 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit, einem Jahr Fahrerlaubnisentzug und der Übernahme der Gerichtskosten geahndet. Die Eltern des Angeklagten sähen einem gesonderten Verfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte entgegen. Zwei Kommentare nehmen zu dem Fall Stellung. Einmal wird das fragwürdige Verhalten der Eltern kritisiert, zum anderen wird bedauert, dass der Hund der Familie, der einem Polizisten ins Bein gebissen habe, nicht vernommen werden könne. Denn die Fähigkeit zu lügen unterscheide den Menschen vom Tier. Über ihren Anwalt legt die betroffene Familie Beschwerde beim Deutschen Presserat ein. Sie hält die Berichterstattung für einseitig, vorverurteilend und ehrverletzend. Zudem seien die Betroffenen identifizierbar. Die Chefredaktion der Zeitung räumt einen saloppen Sprachstil ein, der eigentlich nicht Standard der Zeitung sei und keine ungeteilte Zustimmung finden könne. In keinem der Beiträge aber sei der Sohn der Familie als Täter bezeichnet worden. Immer sei die Rede von einem Angeklagten oder einem jungen Mann, gegen den ermittelt werde oder der im Verdacht stehe. Beschuldigungen seien immer in Möglichkeitsform mit Formulierungen wie „sollte es“ oder „könnte sein“ vorgetragen worden. In den einzelnen Beiträgen sei auch immer die Darstellung des Beschuldigten und seines Verteidigers wiedergegeben worden. Diese sei allerdings auch in Zweifel gezogen und entsprechend kommentiert worden. Im Verfahrensverlauf und noch deutlicher im Urteil werde ersichtlich, dass das Gericht den Wahrheitsgehalt der Darstellung des Angeklagten ebenso bewertet habe. Über die Person des Beschuldigten sei anonymisiert berichtet worden. Der Vorfall habe sich in der Öffentlichkeit vor den Augen vieler Nachbarn abgespielt. Die Gerichtsverhandlung sei öffentlich gewesen. Das Geschehen sei Tagesgespräch im Wohnumfeld der Betroffenen gewesen, bevor die Berichterstattung der Zeitung eingesetzt habe. (2003/2004)