Entscheidungen finden

Marktplatz der Neuigkeiten

Bildliches Beispiel als Symbol für Verbreitung von Gerüchten

Ein Musikpädagoge, Orchesterchef und Musicalkomponist sitzt in Untersuchungshaft. Ihm wird Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Minderjährigen und Schutzbefohlenen im Zeitraum von 28 Jahren vorgeworfen. Einige der Schülerinnen sollen unter 14 Jahren alt gewesen sein. Ein Nachrichtenmagazin berichtet über die Vorwürfe, die der Betroffene Lynchjustiz nenne. Viele in seinem Heimatort hätten darüber geredet, schreibt die Zeitschrift, doch niemand sei zur Polizei gegangen. Unweit der Kirche beherberge ein „geducktes gelbes Haus“ den Friseursalon und die Lottoannahmestelle. Dies sei „in der Provinz der Marktplatz der Neuigkeiten“. In der Textpassage heißt es u.a.: „Hier wurde viel geredet über die Vorlieben des Musiklehrers ... für junge Mädchen, jahrelang. Wohl auch über jene 14-Jährige, die Trompete lernte und schon 1979 ihrem Lehrer zum Opfer gefallen sein soll. (...) Jeder, der hier lauschte, hätte eingreifen müssen. Aber jetzt sind das für die Friseurbesucher auf einmal nur Gerüchte – was ist, wenn die nicht stimmen?“ In dem Beitrag wird erwähnt, dass der heutige Bürgermeister im vergangenen Herbst beim Friseur auch vom angeblichen Missbrauch einer Schülerin erfahren habe. Der Direktor des Gymnasiums wird mit den Worten zitiert, dass er sich wie eine betrogene Ehefrau fühle, die als letzte alles erfahre, da er ja nicht zum Friseur in eben jenem Ort gehe. Die Inhaber des Friseurgeschäfts wenden sich an den Deutschen Presserat. Sie sehen die Berichterstattung für ihre Familie und ihr Unternehmen als beleidigend an. Ein Brief an den Chefredakteur sei ohne Antwort geblieben. In diesem Brief legen die Beschwerdeführer dar, dass sie die Bezeichnung „geduckt“ als anmaßende Beleidigung empfinden. Der Artikel greife außerdem ihre Kunden an. Es werde auch verschwiegen, dass in früheren Jahren bei der Staatsanwaltschaft zwei Anzeigen eingegangen seien, die aber nicht zu einer Anklage geführt hätten. Die Geschäftsstelle des Presserats ermittelt, dass der Brief der Beschwerdeführer nicht an den Chefredakteur der Print-, sondern an den Chefredakteur der Online-Ausgabe der Zeitschrift gerichtet worden ist. Das Justitiariat des Verlages hält die schlichte Beschreibung des Hauses als „geduckt“ nicht für beleidigend. Das Haus falle in der Häuserflucht als klein auf. Dies mit „geduckt“ zu beschreiben, unterliege keinen Bedenken. Dass beim Friseur über den Musiker und dessen Übergriffe auf Mädchen geredet worden sei, ergebe sich aus den auch teils zitierten Gesprächen der Autorin mit dem Bürgermeister, dem Schulleiter, Bandmitgliedern und sonstigen Informanten. Der Begriff „Marktplatz der Neuigkeiten“ stelle eine zulässige Wertung dar, welche die Grenze zur Schmähkritik nicht überschreite. Die beanstandete Passage suggeriere keine positive Kenntnis der Beschwerdeführer. Vielmehr werde lediglich beschrieben, dass „hier viel geredet wurde“, was sich vor allem auf die Kunden und mithin die Bewohner des Ortes allgemein beziehe. Durch die Einleitung des Satzes mit dem Wort „wohl“ werde klar gemacht, dass dies eine Bewertung der Autoren sei. Dass es in dem Ort seit Jahren entsprechende Gerüchte und sogar handfeste Indizien gegeben habe, sei unstreitig. Es sei weiter dargestellt worden, dass es in der Vergangenheit Vorfälle gegeben habe, die nicht zu einer Anklage geführt haben. Eine Verpflichtung, über konkrete ergebnislose Ermittlungsverfahren oder entsprechende Anzeigen – die dann offenbar durch die Beteiligten nicht weiter unterstützt worden seien – zu berichten, bestehe nicht. Schließlich sei die Feststellung „Jeder, der hier lauschte, hätte eingreifen müssen“ eine schlichte Bewertung der geschilderten Umstände durch die Autorin. Es möge sein, dass sich die Beschwerdeführer wie auch zahlreiche Einwohner des Ortes zu Unrecht dem Vorwurf der Untätigkeit ausgesetzt sehen würden. Angesichts der geschilderten und – zumindest was Gerüchte und Indizien angehe – unstreitigen Zustände in der Gemeinde sei eine derart allgemein beschriebene „Sippenhaft“ jedoch hinzunehmen. (2004)