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Nachahmungstäter nicht bestärken

Das Plenum des Deutschen Presserats hat in seiner gestrigen Sitzung in Berlin gemeinsam mit Experten aus der Wissenschaft über die möglichen Folgen der Berichterstattungen über Amokläufe diskutiert. Anlass für die Gesprächsrunde war eine Vielzahl von Beschwerden nach dem Amoklauf von Winnenden. Die Beschwerdeausschüsse hatten auf ihren Sitzungen im Mai unter anderem die Nennung von Opfernamen, eine heroisierende Darstellung des Täters und die fiktive Nachstellung der Tat mit grafischen Mitteln gerügt. Insgesamt wurden 47 Beschwerdeverfahren eingeleitet. Insgesamt 79 Leser hatten sich beim Presserat beschwert.

„Wenn über einen Amoklauf berichtet wird, muss der Opferschutz im Vordergrund stehen. Medienberichte dürfen nicht zu weiteren Opfern führen“, postulierte Prof. Dr. Rüdiger Wulf, Kriminologe und Viktimologe von der Universität Tübingen. Diesem Grundsatz hätten die Beschwerdeausschüsse in ihren Entscheidungen auch Rechnung getragen. Der Sprecher des Deutschen Presserats, Manfred Protze, wies hier auf das „natürliche und zugleich schwierige Spannungsverhältnis zwischen dem begründeten öffentlichen Interesses an einem Ereignis dieser Art auf der einen Seite und den Interessen der Angehörigen in ihrer nicht austauschbaren Rolle als authentische Quellen für eine verlässliche Berichterstattung auf der anderen Seite“ hin. Bei der Berichterstattung über den Täter riet Professor Dr. Herbert Scheithauer, Entwicklungspsychologe und Wirkungsforscher von der Freien Universität Berlin, ebenfalls zu Zurückhaltung. Er sieht hier die Journalisten in einer großen Verantwortungsrolle.

Eine gewisse Form der Berichterstattung könne mögliche Nachahmungstäter bestärken. „Nicht den Täter und seine Motive in den Vordergrund rücken, sondern die Tat, keine Klischees fördern, keine Bilder vom Täter zeigen und keine Namen nennen“, sagte Scheithauer. Bei allem legitimen öffentlichen Interesse sollten sich Journalisten stets die Frage stellen, wie ihre Beiträge auf potenzielle Täter wirken könnten, meinten die Experten. Gäste und Plenumsmitglieder waren sich darüber einig, dass der Grat zwischen der Wahrnehmung des öffentlichen Auftrags der Medien und presseethischen Grenzverletzungen bei einem Ereignis wie in Winnenden schmal sei. Diese Situation erfordere hohe Sensibilität und Aufmerksamkeit der professionellen Akteure auch für die ethische Dimension des konkreten Falls.

Im Zusammenhang mit der Winnenden-Berichterstattung hatte der Presserat in seiner neuen Zuständigkeit auch für Online-Veröffentlichungen erstmals Beschwerden über ein Internetvideo zu beurteilen. Das Video unter dem Titel „Die letzten Sekunden des Amokläufers Tim K.“ war auf den Online-Seiten einer Tageszeitung und einer Wochenzeitschrift veröffentlicht worden. Die Filmsequenz, die von einem Passanten mit einer Handykamera aufgenommen wurde, zeigte die Selbsttötung des Amokläufers auf einem Parkplatz. Der Presserat stellte bei der Diskussion klar, dass die Regeln des Pressekodex grundsätzlich auch für alle Bewegtbilder gelten, die in den Online-Ausgaben von Printmedien eingestellt und dort abrufbar sind. Insbesondere wichtig ist bei der Beurteilung von Videos der beim Betrachter entstehende Gesamteindruck des Beitrages. Im konkreten Fall sah das Gremium die Grenzen des Zulässigen überschritten, da der Film das Sterben eines Menschen zeigt. Auch wenn es sich um den Tod eines Amokläufers handelt, der viele Menschenleben ausgelöscht hat: die Darstellung seiner Selbsttötung ist durch das öffentliche Interesse nicht mehr begründet, verletzt seine Menschenwürde und ist unangemessen sensationell, urteilte das Plenum des Presserats. Es erteilte den beiden Medien einen Hinweis. Auf eine weitergehende Maßnahme verzichtete das Gremium, da Videos zum ersten Mal Gegenstand von Beschwerden waren und die Spruchpraxis hier noch nicht entwickelt ist. Das anstößige Video wurde auch im Fernsehen gezeigt. Für diese Medien besitzt der Presserat jedoch keine Zuständigkeit.

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